Der Sucht davonradeln

Ein Fahrrad auf dem Prüfstand…

Man hört selten Erfolgsgeschichten, wenn es um die Überwindung von multiplen Lebensproblemen von Menschen geht. Häufig enden sie mit dem Verlust der Wohnung und allem, was mal ein geregeltes Leben war. Doch eine davon hat sich im Howard-Philipps-Haus zugetragen, der kleinen aber feinen Einrichtung der Wohnungslosenhilfe der Inneren Mission, Stiftung Waldmühle. Hier ist sie, aufgeschrieben von einem Sozialarbeiter der Einrichtung:

Herr Z. lebte, bevor er in das Howard-Philipps-Haus einzog, monatelang in den Wäldern zwischen Offenbach und Neu-Isenburg in einem Zelt. Die Notunterkünfte im Stadtgebiet waren ihm zu wild, hektisch und aggressiv. Aus der Armee war er eine solche „Disziplinlosigkeit“ nicht gewohnt. Der Wald schien ihm der geeignetste Ort, um ohne Ärger durch den Tag zu kommen und sich mit Blick auf die Covid Pandemie zu isolieren. Der Preis dafür: den ganzen Tag Nässe und eine alles durchdringende Kälte. In der Welt der Wohnungslosen hat Herr Z. mit dem Trinken begonnen.

Das läßt ihn, trotz Entgiftungsbehandlung und regelmäßigem Besuch einer Suchtgruppe, bis heute leider nicht mehr so richtig los. Früher, so sagt er, habe er sich immer mit Sport beschäftigt und kaum Interesse an Alkohol gehabt. Tauchen, Kraftsport und Boxen sind seine Lieblingsdisziplinen gewesen. Das Tauchen ist schwer, so weit weg von der bosnischen Küste. Für Kraftsport und Sparring fühlt er sich nicht mehr fit genug und die Angst vor Verletzungen ist zu groß. Hin und wieder ist er Joggen gegangen.

In der Beratung hat er mir immer wieder von einem KTM Trekkingfahrrad erzählt, das er in der Zeit vor der Wohnungslosigkeit besessen und ausgiebig genutzt hat. Am Main entlang, bis nach Miltenberg in Bayern, in den Vordertaunus oder in die Rhön. Herr Z. ist ein waschechter Tourenradler, der schon einige Tausend Kilometer abgespult hat. Auf der Suche nach dem KTM Trekkingfahrrad konnten wir in der Nähe der Uniklinik nur noch ein abgeerntetes Stück Fahrradrahmen vorfinden.

Über private Kanäle konnte ein Hercules Alu Trekkingfahrrad aus Berlin für Herr Z. organisiert werden. Das Fahrrad stammt ursprünglich von einem Schauspieler aus Frankfurt und ist Anfang der 2000er Jahre mit dem Besitzer in die Hauptstadt umgezogen.

Nach einer Sichtung aller Komponenten war klar, dass das Fahrrad komplett überholt werden muss und einiges an Neuteilen anzuschaffen ist. Gesagt, getan. Bei einem preisgünstigen Hamburger Versandhändler wurden die nötigen Teile beschafft. Durch eine Spende der Firma Rose Bikes GmbH ist das Howard-Philipps-Haus mit erstklassigen Werkzeugen für die Wartung und Reparatur von Fahrrädern ausgestattet. Zwei Tage lang wurde geputzt und gewerkelt. Der anfängliche Kommentar von Herrn Z. „Wenn ist fertig, fährt wie Teufel“ sollte sich dann auch bewahrheiten. Die Kette schnurrt, alle Gänge schalten weich und sauber, die Lager drehen und die Bremsen greifen. 48-11 und ab die Post.

Herr Z. hat seinen persönlichen Kampf gegen den Alkohol mit diesem Sportgerät auf ein ganz neues Level gebracht: Er fährt nahezu täglich von der Frankfurter Innenstadt nach Seligenstadt an der hessisch-bayrischen Grenze und wieder zurück. Er hat seine Ernährung umgestellt und einige Kilos auf den Straßen gelassen. Es ist nicht nur der Kampf gegen den Alkohol. Auch seine Mobilität hat Herr Z. wieder. Statt verharren in engen Quartieren, bewegt er sich durch die Welt und kann wieder Erfahrungen machen, denen er sich jahrelang selbst beraubt hat.